Der große Stadtbrand von 1726 hat die Geschichte der Achalmstadt verändert. Stadtführer und Feuerwehr-Ehrenmitglied Helmut Kober schildert das Geschehen eindrücklich.
Als die Brandglocke die Reutlinger Bürgerschaft am späten Abend des 23. September 1726 in den Einsatz rief – eine Feuerwehr gab es damals noch nicht – ahnte noch niemand, dass sich der Brand, der beim Schuster Friedrich Dürr in der unteren Wilhelmstraße ausgebrochen war, zu einem Feuersturm entwickeln würde, der als großer Stadtbrand in die Geschichte der Achalmstadt eingehen würde.
Bewohner bildeten Eimerketten
Die in den Zünften organisierten Männer schafften in aller Eile drei Feuerspritzen herbei, die Bewohner der freien Reichsstadt bildeten Eimerketten, um die Spritzen mit Wasser aus dem Stadtbach zu versorgen.
Sieben bis acht Liter fassten die ledernen Eimer, von denen nun das Wohl und Wehe der Stadt abhing. Und vom Wirken der Zünfte, deren Männer die Handpumpen bedienten und mit zunehmender Verzweiflung versuchten, dem Feuer Einhalt zu gebieten. Eine Chance hatten sie nicht: Drei Feuerspritzen waren viel zu wenig, um dem Großbrand Herr zu werden.
Ironischer Weise wurden diese handbetriebenen Feuerspritzen damals in Reutlingen produziert und erfolgreich in ganz Europa verkauft, wie Stadtführer Helmut Kober erzählt. Kober, vor seinem Ruhestand viele Jahre stellvertretender Kommandant der Reutlinger Feuerwehr, führt zwei Mal im Jahr Interessierte in die Geschichte des Reutlinger Stadtbrandes ein.
Offenes Feuer war unter Strafe verboten
Eine Chance hatten die Löschmannschaften aber auch deshalb nicht, weil Schuster Dürr zunächst versucht hatte, den Brand zu verheimlichen.
Offenes Feuer war in der Reichsstadt nämlich unter Strafe verboten – die Regeln hierzu wurden jährlich beim Schwörtag verlesen. Eine Magd im Hause Dürr soll sich nicht daran gehalten haben: Eine brennende Kerze fiel ihr aus der Hand, durch einen Spalt im Dielenboden rollte die Kerze direkt in das Heulager der Scheune, die durch die reiche Ernte des Sommers prall gefüllt war. Schuster Dürr versuchte den Brand selbst zu löschen – und verlor damit wertvolle Zeit. „Viele Reutlinger betrieben damals noch eine Landwirtschaft, sodass die Brandmasse in den Häusern groß war“, weiß Kober. Die reiche Ernte des Sommers 1726 erwies sich nunmehr als Fluch.
Wilhelmstraße kein Hindernis
Als endlich Alarm geschlagen wurde, hatte das Feuer das ganze Gebäude des Schusters erfasst – und die Flammen breiteten sich rasch aus: Die Wilhelmstraße, damals noch enger bebaut als heute, war kein Hindernis:
Die Gebäude auf der anderen Straßenseite fingen Feuer, die Nachbargebäude ebenso. Brandmauern, wie sie heute die Bauordnungen einfordern, kannte das Mittelalter noch nicht.
Schnell regierte das Chaos: Die Pumpen der Feuerspritzen verstopften, weil der Stadtbach damals zugleich als Kanalisation diente und das Wasser entsprechend mit Schmutz und Kloake vermischt war. Und während die einen noch löschten, versuchten die anderen ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Einige Bewohner der Stadt versuchten, ihre Habe in der Marienkirche in Sicherheit zu bringen.
Das Gotteshaus, so deren Hoffnung, würde einem Brand standhalten. In aller Eile bemühten sich die Helfer anschließend, Gebäude in unmittelbarer Nähe der Kirche einzureißen, um dem Feuer die Nahrung in Kirchennähe zu nehmen. Auch dieser Versuch, das Feuer zu bändigen,
scheiterte: Die Wärmestrahlung war so gewaltig, dass sich der hölzerne Glockenturm von selbst entzündete, die Marienkirche, Stolz der Reichsstadt, brannte in der Folge komplett aus. „Erst bei der Sanierung Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Schäden beseitigt“, berichtet Kober.
900 Gebäude wurden zerstört
Die Bilanz war verheerend: Rund vier Fünftel der Stadt fielen den Flammen zum Opfer, 900 Gebäude wurden zerstört, 1200 Familien in der 6000-Einwohner-Stadt standen vor der Obdachlosigkeit. „Das Rathaus, der Spitalhof, vier Pfarrhäuser und viele weitere öffentliche Gebäude wurden zerstört“, zählt Kober auf. Das öffentliche Leben stand still. Insgesamt
38 Stunden loderten die Flammen, am Ende unterstützten auch Männer aus Eningen, Pfullingen und Tübingen die Löschversuche. Selbst beim Herzogtum Württemberg ersuchten die Reutlinger um Hilfe – obgleich die Freie Reichsstadt in ständigem Zwist mit dem Adelsgeschlecht lag. Dessen Soldaten waren es dann, die weitere Plünderungen verhinderten.
Der Wiederaufbau dauerte Jahre. Erst drei Jahre nach dem Brand erwarb die Stadt das heutige Alte Rathaus, zuvor war die Verwaltung provisorisch im Schwörhof untergekommen. Mit einem Bettelbrief wurden Reutlinger Bürger quer durch Europa geschickt, um Spenden für die im wahrsten Sinne des Wortes abgebrannte Reichsstadt zu sammeln. „Was diese Männer erlebt haben, wäre eine eigene Geschichte wert“, weiß Kober.
Spendengelder finanzierten dann auch den Bau des heutigen Naturkundemuseums – die erste Schule, die nach dem Brand wieder öffnete.
Spuren des Stadtbrandes sind noch heute sichtbar: Die Sandsteine in der Stadtmauer in der Jos-Weiß-Straße haben sich rot verfärbt. „Hier muss es granatenmäßig gebrannt haben“, staunt Kober noch heute. Aus eigener Erfahrung kann der Feuerwehrmann schildern, wie schwierig sich die Brandbekämpfung in den Fachwerkhäusern des Mittelalters gestaltet. Wände und Böden sind zur Isolation mit Spreu gefüllt. „Wenn das einmal brennt, dann brennt es“, sagt Kober.
Jede Minute, die ein Brand schneller gemeldet wird, ist deshalb noch heute entscheidend. An dieser Regel hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn 1847 die Reutlinger Feuerwehr gegründet wurde. Dürr, dessen Zögern bei der Brandmeldung den Stadtbrand mit verursachte, wurde indes der Prozess gemacht. Der unglückliche Schuster wurde der Reichsstadt für sechs Jahre verwiesen. Ob er zurückkehrte, ist nicht überliefert.
Alexander Thomys