Hochwasser - 46-Jähriger wird nach Sprung in die Echaz vermisst. Feuerwehr am Limit: 104 Einsätze im Stadtgebiet
Dramatische Zuspitzung in der Nacht
Von Ulrike Glage
REUTLINGEN. Gegen Abend sah es am Samstag noch so aus, als ob sich die Hochwasser-Lage entspannen würde. Aber es sollte schlimmer kommen, als es eh schon war: Gegen 22 Uhr spitzte sich die Situation durch den anhaltenden Regen gefährlich zu. Die Pegel schnellten nach oben, Echaz und Neckar schwappten über die Ufer, überfluteten vor allem in Altenburg, Mittelstadt und Betzingen die Straßen. Land unter auch in Gönningen, wo die Wassermassen in die Produktionsanlagen der Firma MezFrintop, in die Rossbergschule und weitere Gebäude eindrangen. Damit nicht genug der Dramatik:
Gegen 22.34 Uhr wurde ein Mann beobachtet, der von der Lindachbrücke sprang und von den Fluten mitgerissen wurde. Der 46-Jährige konnte bislang nicht gefunden werden. »Das sind Wassermassen wie noch nie«, sagt Feuerwehr-Zugführer Christian Wittel am späten Samstagnachmittag mit bedenklichem Blick auf die Echaz, die sich vom beschaulichen Flüsschen in einen reißenden braunen Strom verwandelt hat. Der hat das Haus hinter der Alten Feuerwache längst eingeschlossen. Es wird evakuiert: Der Wasserdruck ist inzwischen so stark, dass die Einsatzkräfte um die Standsicherheit des alten Fachwerkgebäudes fürchten.
Sorge um Standsicherheit
Durch den »gewaltigen Druck« am Wehr, so der für den Einsatzbereich zuständige Wittel, geraten auch weitere Gebäude in Gefahr. Die Mauer an einer angrenzenden Baugrube, die inzwischen die Ausmaße eines gigantischen Sees angenommen hat, wird durch ein eigens angeheuertes Abbruchunternehmen eingerissen – eine »Entlastungsdrainage«, so Wittel, mit deren Hilfe das Schlimmste verhindert werden kann. Aus seiner Sicht hat sich die Lage stabilisiert. »Aber Entwarnung gibt es erst, wenn es aufhört zu regnen.« Es regnet allerdings weiter. In die Tiefgarage am Neubau der Zahnwache dringt das Wasser ein. Im Lederstraßen-Parkhaus ist das Untergeschoss längst gesperrt. Jetzt wird es auch in Betzingen brenzlig. Dort sind zwar längst die »Schotten dichtgemacht«, so Thomas Hirrlinger, Chef der Freiwilligen Feuerwehr, sprich: Sandsäcke schützen gefährdete Gebäude in der Steinachstraße; ebenso das Rathaus, das Bezirksbürgermeister Thomas Keck noch in der Freitagnacht mit einer Spundwand an der Eingangstüre und Säcken sichern ließ. Die Echaz ist dem Rathaus schon gefährlich nahegekommen – auch der Brücke davor. Keck ist den ganzen Samstag über im Ort unterwegs. Und sieht mit Sorge, wie die Echaz hinter dem Kreissparkassengebäude ihr Flussbett verlässt und die Straße flutet. »Das ist die Schwachstelle, da muss dringend etwas getan werden.«
Mit Booten evakuiert
Noch größer wird die Sorge Kecks, als am späten Abend der Pegel steigt und steigt. Die Echaz schwappt jetzt doch auf die Echazbrücke, die gesperrt wird. In etlichen Häusern laufen die Keller voll. »Wir sind aber noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Ein paar Zentimeter mehr, und das Rathaus wäre nicht zu halten gewesen«, sagt Thomas Keck. Und zollt der Feuerwehr höchstes Lob: »Die haben derartig schnell gehandelt, das war hervorragend.« So viel Glück wie die Betzinger haben andere Vororte nicht. Die Wiesaz tritt in Bronnweiler und Gönningen über die Ufer, dringt in Gebäude und macht Straßen unpassierbar. Auf der Gönninger Ortsdurchfahrt steht das Wasser 40 Zentimeter hoch. Aber auch der Neckar zeigt sich von seiner wildesten Seite. Der Pegel steigt auf 5,90 Meter – Höchststand, sagt Reutlingens Feuerwehr-Chef Harald Herrmann. »Das ist mehr als beim Jahrhunderthochwasser vor elf Jahren.« Selbst beim großen Hochwasser 1978 sei der Pegel nicht so hoch gewesen. Ein Rekord, der sich in Mittelstadt und Altenburg unangenehm bemerkbar macht. Gebäude in Ufernähe werden von den Wassermassen eingeschlossen. Auch die Firma Vogel in Altenburg ist betroffen: Weil sie mit Fahrzeugen nicht mehr erreichbar ist, werden fünf Personen vorsorglich mit Booten in Sicherheit gebracht. Koordiniert werden die Einsätze von einem Führungsstab der Feuerwehr mit Kreisbrandmeister Wolfram Auch und Stadtbranddirektor Harald Herrmann. Auch der Erste Landesbeamte Hans-Jürgen Stede und Reutlingens Bürgermeister Robert Hahn sind mit dabei. 325 Einsätze von Samstag 6 Uhr bis Sonntag 6 Uhr, davon 104 im Stadtgebiet und die meisten zwischen 22 und 5 Uhr – ein Kraftakt für die 800 Feuerwehrleute im Kreis, für THW, Straßenmeistereien, Technische Betriebsdienste und alle anderen Helfer. »Wir haben fast alle Leute draußen, und das seit 19 Stunden ohne Unterbrechung«, so Harald Herrmann gestern Nachmittag. Klar, dass die Erschöpfung groß ist. Doch es gibt auch viel Lob für die »hervorragende Arbeit der Einsatzkräfte, die bis an ihre Leistungsgrenze gegangen sind«, so Reutlingens Pressesprecher Wolfgang Löffler aus dem Lagezentrum. (GEA)